Willi Geiger – Werkbeschreibung V
On 4. September 2024 by FranziskaFür das Sommersemester 2024 entstand eine Kooperation zwischen dem Archiv Geiger und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Rahmen der Übung „How to Werkbeschreibung“ lernten Studierende der Kunstgeschichte anhand von Originalen von Willi Geiger, das Handwerk einer Werkbeschreibung. Fast alle Studierende befanden sich im Bachelor-Studium, betreut wurden sie von Dr. des. Helene Roth der LMU sowie von Julia Geiger und Franziska Straubinger vom Archiv Geiger.
Werkbeschreibung von Nicolas Herrmann
Ein hell aufleuchtender Schimmer am Himmel durchzieht die Szene, fast schon fantastisch, die Komposition dominierend. Er ist eingebettet in ein Wechselspiel aus verschiedenen Farben und kontrastierenden Darstellungen von Hell und Dunkel. Neben dem Naturschauspiel ist eine menschliche Szene im Vordergrund zu erkennen: zwei Boote mit Personen darauf, das Spiegelbild der hellen Darstellung des Himmels auf dem Gewässer durchbrechend. Das Ufer mit einer leicht angedeuteten Insel scheint flach und unauffällig in die Darstellung mit einzufließen. Darüber der Horizont, welcher, nur als dunkler Strich bestehend, die Komposition in ein Oben und Unten teilt. Diesen definiert dahinter ein orangenes Leuchten: die Ankündigung eines neuen Tages.
Willi Geigers kleinformatiges Landschaftsbild Fischer am Chiemsee von 1950 entsteht zu einer Zeit, in der der Künstler sich von der Natur und den regionalen Besonderheiten inspirieren lässt. Zeit seines Lebens bereist er verschiedene Orte Europas. An vielen von ihnen wohnt er mitsamt Familie, so mitunter in Berlin und Leipzig, aber auch in Spanien. Seine oberbayerische Heimat scheint er jedoch nie gänzlich hinter sich lassen zu wollen. So widmet er sich immer wieder der Voralpenlandschaft rund um den Chiemsee. Hier befindet sich ein 450 Jahre altes, von ihm in den 1930er Jahren erworbenes und renoviertes Bauernhaus, die Bax genannt. Als Atelier und Wohnhaus genutzt, entstehen dort neben verschiedenen Aquarellen, welche auch als Vorstudien zu diesem Werk gedient haben könnten, seine berühmten Darstellungen von Blumen, in denen er beginnt, mit der Intensität von Farbe zu spielen. Das Thema der Landschaft und des Landlebens um ihn herum existiert hier nun vordergründig. Diese neue Gesamtsituation beschreibt er in seinen Memoiren Mitte der 1930er-Jahre wie folgt:
„An Stelle der gewohnten Leipziger Gewandhauskonzerte trat das Läuten der Kuhglocken, die Hahnenschreie aus entfernten Bauernhöfen, der Silberton des Hammerschlags auf dem Amboss. Täglich die milde Voralpenlandschaft vor Augen, griff ich das Aquarell wieder auf; ich wurde rückfällig. Es drängte mich, diese Erdenschönheit so einzufangen, wie sie war, ich malte den hohen bayerischen weiß-blauen Himmel über der zackigen Kampenwand, die mit Eichen bestandenen saftigen Wiesen, das Silberband des Chiemsees – nicht verformt, ohne dem Motiv Gewalt anzutun.“[1]
„Das Silberband des Chiemsees“ – Willi Geiger greift hier diese landschaftliche Beobachtung auf und macht sie zum Gegenstand der uns vorliegenden Darstellung. Sein Fokus scheint hier nicht auf einer detailgetreuen Wiedergabe des Gesehenen zu liegen. Vielmehr fängt der Maler eine Atmosphäre, eine Stimmung der besonderen Szene in dieser Landschaft ein. Das gelingt ihm durch eine vielseitige und komplexe Verwendung von verschiedenen Farbtönen, die an fast allen Stellen des Gemäldes übereinandergeschichtet werden. Während im unteren Teil vor allem blaue Töne vorherrschen, die in der Mitte des Bildes durch ein Weiß und Gelb durchbrochen werden, dominieren im oberen Teil eher rötlich bis braune Akzente. Auch hier wird durch den anfangs erwähnten weißen „Schimmer“ am Himmel diese Farbgebung kontrastierend unterbrochen. Durch den Einsatz von Ölfarben und -kreiden erzeugt er eine Plastizität im Bild, welche das atmosphärische Moment für den Betrachter spürbar macht. Ein lebendiger, keiner naturgetreuen Abbildung folgender Pinselduktus sowie ein besonders dicker Auftrag der Farbe scheinen diese Intention zu verdeutlichen.
Auffallend mittig, in das Spiegelbild des hell erleuchteten Himmels eingebettet, befinden sich in Geigers Komposition zwei Boote auf dem See. Die Personen auf ihnen – dem Namen des Gemäldes nach zu urteilen Fischer bei ihrer Arbeit – sind in je zwei Paare aufgeteilt. Auch wenn sie undetailliert und abstrahiert wiedergegeben sind, scheint es so, als würden sie miteinander interagieren. Die Besonderheit von Geigers Malweise liegt hier ebenfalls in einem dicken Farbauftrag und Duktus. Folglich wirkt es so, als würden diese kaum durch Lebensähnlichkeit überzeugenden Figuren ungeachtet dessen eine eigene Geschichte erzählen.
Die stark kontrastierende Farbigkeit von rötlichen im oberen und blauen Tönen im unteren Teil des Bildes schaffen eine räumliche Abgrenzung innerhalb der Komposition. Neben dieser horizontalen Trennung wird durch den hell erleuchteten Himmel, welcher in die Tiefe der Darstellung flüchtet, gleichzeitig eine vertikale Teilung erzeugt. Sie zieht sich durch die Spiegelung des Lichts im dunklen Wasser des Sees auch durch den unteren Bildteil. Hierdurch erzeugt der Maler eine Harmonie in der Komposition, die im Kontrast zu der dunklen, eher mystischen Farbigkeit der Darstellung steht. Dieses Wechselspiel erweckt den Eindruck, als ob er mit seinem Werk mit der Gattung der Landschaftsmalerei experimentiert und hier auch seine persönliche Betrachtung miteinfließen lässt.
Neben den Farben spielt Willi Geiger auch mit den Perspektiven, beziehungsweise Standpunkten des Chiemsees im Gemälde. Die am Horizont des Bildes angedeuteten Inseln im See erstrecken sich an der westlichen Küste. Die dargestellten Fischer fahren für gewöhnlich aber früh morgens, also vor Sonnenaufgang, auf den See, um ihre Netze auszuwerfen. Geiger malt diese jedoch mit einer Perspektive gen Westen. Es müsste sich somit in seiner Wiedergabe um einen Sonnenuntergang am Horizont handeln. Dies würde jedoch nicht mit einer realistischen Auseinandersetzung des Themas der Fischer und deren frühmorgendlichen Arbeitsbeginn vereinbaren. Es kann somit angenommen werden, dass Geiger hier eine freie, seiner eigenen Fantasie entsprungenen Darstellung wählt, in der er verschiedene Betrachtungen und Perspektiven kombiniert.
Nicht nur hier scheint es Geiger um eine spielerische, experimentelle Auseinandersetzung mit der Gattung des Landschaftsbildes zu gehen. Etwa ein Jahrzehnt bevor er die Szene am Chiemsee malt, setzt er sich in einer Ansicht von Landshut mit seiner Heimatstadt auseinander. Aus der Vogelperspektive blicken die Betrachtenden auf die energiegeladene Szene. Zu sehen ist die Stadt, die Isar und die auf einem Hügel thronende Burg Trausnitz. Der Himmel nimmt im Werk, genauso wie bei seiner Darstellung Fischer am Chiemsee, etwa zwei Drittel der Komposition ein. Durch die gewaltig sich auftürmenden, in die Tiefe des Bildes erstreckenden, Wolken erscheint das Gemalte bedrohlich. Der Gegensatz zwischen den intensiven Farben des Himmels und der abstrakten Landschaft verweist darauf, dass Geiger statt einer naturgetreuen Abbildung vielmehr eine atmosphärische Darstellung anstrebt. Genauso bleibt eine genaue zeitliche Einordnung nur ungefähr, da auf dem Gemälde nicht zu erkennen ist, ob der Sturm oder das Gewitter sich bereits über der Landschaft entladen hat oder sich gerade immer weiter aufbaut.
Es ist der besondere Blick des Malers auf sein Umfeld, der das Landschaftsbild in Willi Geigers Œuvre so interessant macht. Durch die Akzentuierung der Farbigkeit scheint es so, als würde er unseren Blick durch die Komposition lenken. Angesichts dieser Fertigkeiten des Malers ist seine Darstellung der Fischer am Chiemsee mitunter eine der interessantesten in Geigers Gesamtwerk und bietet fortwährend neue Aspekte, die es zu erforschen gilt.
Nicolas Yannick Herrmann, der Verfasser dieser Beschreibung, ist 20 Jahre alt und studiert leidenschaftlich im zweiten Semester im Bachelor-Studium Kunstgeschichte an der LMU, München. Die Arbeit mit Werken im Original und die Kooperation mit dem Team des Archivs Geiger ließen viel Spielraum für einen kreativen Ansatz. Das sonst eher theorielastige Studium wurde so durch einen praktischen Aspekt ergänzt, was sehr ansprechend war.
[1] Willi Geiger, Der offene Horizont. Lebenserinnerungen von Willi Geiger, Landshut 1996, S. 156.
Kategorien
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- Archiv Geiger bei Geiger am Bau #10: Meditationsraum, Taufkirchen (Vils), 1991
- Regine Urban-Falkowski bei Geiger am Bau #10: Meditationsraum, Taufkirchen (Vils), 1991
- Tanja Praske bei „Reise in den Süden“ – Unser Beitrag zur Blogparade: Mein Kulturtrip im Sommer für Dich – #KultTrip
- Blogparade "Mein Kulturtrip für dich im Sommer" Aufruf #KultTrip bei „Reise in den Süden“ – Unser Beitrag zur Blogparade: Mein Kulturtrip im Sommer für Dich – #KultTrip
- Steffie Müller bei Rupprecht Geiger Werkübersicht #8: 666/73, 1973 (WV 644)
Archiv Geiger
Archive
- September 2024
- August 2024
- Juli 2024
- Februar 2024
- April 2023
- März 2022
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- Oktober 2020
- September 2020
- August 2020
- Juli 2020
- Juni 2020
- Mai 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- April 2018
- Februar 2018
- Oktober 2017
- April 2017
- Februar 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juli 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- November 2015
- September 2015
- Juli 2015
- Juni 2015
- Mai 2015
- April 2015
- März 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- November 2014
- Oktober 2014
- September 2014
- August 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
Schreibe einen Kommentar