Rupprecht Geiger Werkübersicht #4: E 75, 1949 (WV 40)
On 28. April 2014 by JuliaEin Beitrag von Julia Geiger
Während Rupprecht Geiger im Jahre 1948 lediglich elf Gemälde anfertigt, nimmt die malerische Produktion in den beiden darauffolgenden Jahren erheblich zu. 1949 entstehen 30 Gemälde und 1950 malt er 24 Arbeiten. Diese deutlich zunehmende Produktivität Geigers spiegelt die finanzielle Lage des Künstlers wider, die sich nach der Währungsreform verbessert. Parallel dazu nimmt er seine Tätigkeit als Architekt wieder auf. Die Werke dieser künstlerischen Phase gewähren dem Betrachter Einblicke in farbige Räume ohne örtlichen Bezug und ohne Perspektive. Wenige vereinzelte, geometrische und organische, teilweise in sich farblich modulierte Formen sind auf subtilen Farbverläufen platziert.
Das kleinformatige Eitempera-Gemälde E 75 zeigt auf einem dunklen, in blau und schwarz modulierten Grund mehrere geometrische Formen. Diese sind in der unteren Bildhälfte kettenartig horizontal aufgereiht. Durch ihre unterschiedliche, meist helle Farbgebung heben sie sich vom dunklen Hintergrund ab und rufen Assoziationen zu Architektur hervor. Gleichzeitig erwecken die vorwiegend unmodulierten, flachen Formen den Eindruck, in einem undefinierten, leuchtenden Raum zu schweben, ähnlich wie bei den Architekturmaßaufnahmen von 1926 des verlassenen Kapuzinerklosters in Trevi – Geiger begleitet damals als Student der Kunstgewerbeschule in München seinen Professor Eduard Pfeiffer auf einer Studienreise und zeichnet Grund- und Aufrisse auf einem in tiefblauer Farbe getränkten Papier, in Anlehnung an die gesehenen Fresken Giottos im Dom von Assisi.
In seinem Tagebuch 1939-1949 notiert Geiger neben vorbereitenden Skizzen zu E 75 den Hinweis „die entmaterialisierte Architektur“. Der Bezug zur Architektur ist hier eindeutig, allerdings stellt der Künstler die konventionellen, im Studium erlernten Architekturgesetze in Frage. In E 75 werden die der Architektur spezifischen Eigenschaften – Erdgebundenheit, Materialität, Schwere – aufgehoben: die architektonischen Elemente ruhen nicht auf einem Erdbereich, sondern schweben losgelöst, geradezu schwerelos in einem weiten Raum. Die architektonisch anmutenden Komponenten in den Werken Geigers stehen eindeutig im Zusammenhang mit seinem erlernten Beruf, wie er selbst formuliert:
„Sicher ist dieses Gefühl für das richtige Maßverhältnis, für Proportionen [in der Malerei] durch mein Architekturstudium entwickelt worden“ (Interview mit Maria Wetzel, in: Diplomatischer Kurier, 12.Jg. H.2., 1963, S. 444)
Neben dem Einfluss der strengen Formensprache und der Proportionsgesetze der Architektur spielt die Integration von architektonischen Elementen als Bildmotive im künstlerischen Frühschaffen Geigers ebenfalls eine wichtige Rolle. In den im Krieg entstandenen Werken sowie in den Landschaftsgemälden der ersten Nachkriegsjahre werden oftmals Gebäudedarstellungen bzw. Architekturdetails in seinen Kompositionen eingesetzt. In den Bildern mit irregulären Formaten kommt die Architektur nur in reduzierter Form als Staffage vor. In den darauffolgenden Jahren wird sie stellenweise als bildprägendes Motiv herangezogen. Die zahlreichen, im Laufe seiner Karriere ausgeführten Arbeiten im öffentlichen Raum, sowie die immanente räumliche Wirkung seiner Werke zeugen nicht zuletzt von diesem besonderen Gespür Geigers für das Architektonische. Das hier besprochene Gemälde zeigt gewisse Parallelen zu der im Jahr 1951 entworfenen Fassade über dem Haupteingang des Münchner Hauptbahnhofs. Die Wirkung dieser Arbeit kommt nachts am besten zur Geltung, wenn die Leuchtstoffröhren die einzelnen Aluminiumplatten zum Schweben bringen.
Für das Gemälde E 75 wäre Geiger beinahe der Blevin-Davis-Preis verliehen worden, wenn er zum Zeitpunkt der Preisausschreibung die Altersgrenze von vierzig Jahren nicht überschritten hätte. Für das große „Deutsche Kunst-Ausschreiben“, angeregt von dem amerikanischen Kunstfreund Blevin Davis, wurden 1949 deutsche Maler aus allen Besatzungszonen im Alter von 18 bis 40 Jahren eingeladen, ihre Werke dem Central Art Collecting Point in München einzusenden. Die internationale Jury, die bemüht ist, „das wirkliche, richtungweisende Talent zu finden“ und „die reine echte Aussage des Künstlers und die von ihm beherrschten Mittel zu werten“, muss innerhalb einiger Tage 3649 anonym gehaltene Bilder auswerten. Die Auswahl fällt zunächst auf E 75 von Rupprecht Geiger, das der Kunstkritiker Ludwig Grote hervorhebt. Nach der Zusammenstellung der Preisträgerpersonalien wird allerdings festgestellt, dass der Künstler die Altersgrenzen um ein Paar Wochen überschritten hat. Trotz dem zurückgezogenen Preis fühlt sich Geiger in seiner damaligen malerischen Entwicklung bestätigt.
Sein künstlerisches Programm der Nachkriegsjahre fasst Rupprecht Geiger in folgendem Text zusammen:
„Was will diese neue Kunst? Sie wendet sich weitgehend vom Gegenständlichen ab und erreicht dies durch eine neue Farb- und Formgebung. […] Es ist ein aufregendes Abenteuer, von der Realität Abstand zu nehmen und die Dinge zu verzaubern. […] Hier sind die Möglichkeiten unbegrenzt. […] Da ist vor allem die Farbe. Gewichtig steht sie an erster Stelle. Da ist die Dynamik der Komposition mit der ihr eigenen Spannung, da ist die Formgebung die keine Grenze kennt.“ (Text, in: Ausstellungskatalog Extreme Malerei, Augsburg 1947, o.S.)
Dieser Drang nach dem Neuen teilt er damals mit anderen Künstlerkollegen, die gemeinsam die Künstlergruppe ZEN 49 in den Jahren 1949 bzw. 1950 gründen. Kein gemeinsamer Stil, sondern die Abstraktion als Sinnbild künstlerischer Freiheit wird von der Gruppe angestrebt.
Zitierweise: Geiger, Julia: Werkbeschreibung E 75, 1949 (WV 40) [29.04.2014], in: Archiv Geiger Blog LINK (zuletzt aufgerufen am TT.MM.JJJJ).
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