Die Familie Geiger: Willi Geiger
On 21. September 2016 by ArchivSeit Juli diesen Jahres läuft im Schoßmuseum Murnau die Ausstellung „Väter & Söhne: Konfrontation und Gleichklang“, wo auch drei Generationen der Familie Geiger vertreten sind. In den nächsten vier Wochen werden wir Euch die verschiedenen Familienmitglieder und ihre Kunst vorstellen, damit Ihr einen kleinen Überblick über diese Künstlerfamilie bekommt!
Wir beginnen mit dem Stammesältesten: Willi Geiger.
Willi Geiger (1878–1971) bildet als Doyen der Künstlerfamilie den Ausgangspunkt dieser Kunstreise über drei Generationen. Bis Anfang der 1980er-Jahre findet sein Werk ein breites Publikum, mittlerweile ist es nur noch einem kleinen Sammlerkreis bekannt.
Die Affinität zur Kunst weckt bei Willi Geiger die Mutter Maria, geborene Leidl, und sie unterstützt ihn bei der Wahl des brotlosen Künstlerberufs.[i] Nach einem Studium der Malerei beim Malerfürsten Franz von Stuck und der Radiertechnik bei Peter Halm bahnt er sich einen Weg in die Kunstwelt und ist seinerzeit ein anerkannter Grafiker und Porträtmaler, teilt aber später das Schicksal seiner Künstlergeneration. Nach seiner fristlosen Entlassung 1933 aus der Professur an der Staatlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig geht Willi in die innere Emigration und lebt zurückgezogen in Übersee am Chiemsee in der so genannten Bax – einem mehr als 450 Jahre altem Bauernhaus, welches er kurz zuvor erworben und mit seinem Sohn Rupprecht restauriert hat.[ii] Nach der 12-jährigen Nazidiktatur wird er durch eine Professur an der Akademie der Bildenden Künste München sowie durch zahlreiche Ehrungen rehabilitiert. In den Nachkriegsjahren sieht sich Willi mit der abstrakten Kunst konfrontiert, mit der er sich in seinem Spätwerk verstärkt auseinandersetzt.
Bereits während seines Studiums entstehen erste Grafikfolgen, darunter 1903 die Mappe „Seele“ und 1904 der in der Ausstellung gezeigte Zyklus „Liebe“ mit zehn Radierungen. Für das letztgenannte Werk erhält Willi den angesehenen, gut dotierten Graf-Schack-Preis, verliehen von der Akademie der Bildenden Künste München. Der ermöglicht ihm eine zweijährige Reise, zuerst 1905 nach Rom, Neapel und Tunesien sowie im darauf folgenden Jahr nach Paris und Madrid.
In dieser Mappe werden alle Facetten des Phänomens Liebe gezeigt: Begierde, Eifersucht, Wut und Innigkeit gibt Willi Geiger ausdrucksstark wieder. Auch die verschiedenen Zeitpunkte der Liebe – in der Jugend wie im Alter – lässt der Künstler nicht unbeachtet. Lebenslang widmet er sich – oft ohne Auftrag und im Selbstverlag erscheinend – in Form einzelner Blätter, Mappen oder Buchillustrationen der grafischen Kunst, was ihn zu einem der wichtigsten Grafiker seiner Zeit macht.
Aufgrund seines psychologischen Einfühlungsvermögens geschätzt, porträtiert Willi zeitlebens zahlreiche, teilweise bekannte Persönlichkeiten – so zum Beispiel 1924 den Philosophen Ernst Bloch und 1927 den Schriftsteller Heinrich Mann – zudem entstehen zahlreiche Selbstbildnisse und die anderer Familienmitglieder: Frau, Sohn und Enkel posieren für ihn. Neben einem kleinformatigen, frühen Selbstporträt als Kopfbild zeigt die aktuelle Ausstellung das Büstenporträt des 17-jährigen Rupprecht in Frontalansicht. In heller, lässiger, sommerlicher Kleidung hebt sich der schöne Jüngling vor einem in Lila-, Blau- bis Brauntönen changierenden Hintergrund ab, ganz in der Tradition klassizistischer Porträtkunst. Wie anhand des neben der Signatur oben links angegebenen Entstehungsortes „Tenerifa“ erkennbar ist, malt Willi das Ölgemälde während des eineinhalbjährigen Aufenthalts der Familie in Spanien. Der Maler wagt damals einen Neuanfang im Süden, bereist gemeinsam mit seinem Sohn die iberische Halbinsel und die Kanaren, lässt sich vom spanischen Stierkampf prägen und kopiert El Grecos Werke, so zum Beispiel das „Begräbnis des Grafen von Orgaz“ in Toledo – seine Begeisterung für jenes Gemälde taucht in einer vor Ort niedergeschriebenen Betrachtung auf: „Vor diesem außerordentlichen Werk öffnet sich dem geistigen Auge elementar die Magie der Farbe.“[iii] Nebenbei bringt Willi seinem Sohn das Handwerk bei, wobei er nie die Rolle eines Lehrers einnimmt.[iv] Vielmehr eignet sich Rupprecht durch Vermittlung des Vaters weitreichende technische und kunsthistorische Kenntnisse an. Die Reisen mit dem Vater in den Süden wecken seine lebenslange Faszination für Licht und Farbe und sicher begünstigt dies später seine Hinwendung zur Malerei während des Zweiten Weltkrieges.
Das dritte ausgestellte großformatige Ölgemälde „Die Enkelkinder“ zeigt Lenz rechts und Florian links, sitzend, auf einer Bank vor einem Meer von Blumen und Bäumen. Im Hintergrund zeichnet sich die Bergsilhouette der Kampenwand ab. Eine Szenerie, die sich vor der oben erwähnten Bax abspielt. Es sind überlebensgroße Ganzkörperporträts seiner Enkelkinder, die volle Höhe der bemalten Leinwand füllend – ein Eindruck, der durch die abgeschnittenen Füße von Lenz verstärkt wird. Das Doppelporträt aus dem Jahr 1942, dem Zeitpunkt als die Schwiegertochter mit den beiden Kindern aus dem zerbombten München aufs Land flüchtet, spiegelt wenig von den Turbulenzen seiner Entstehungszeit wider, sondern zeigt auf den ersten Blick die glückliche, heile Welt einer Kindheit auf dem Land. Die Ernsthaftigkeit der beiden Kinder ohne Lächeln, die laut Entstehungsjahr des Gemäldes zwei beziehungsweise vier Jahre alt sind, wird verstärkt durch deren Haltung und Attribute: Es sind keine Spielzeuge zu sehen, vielmehr hält Lenz vorsichtig auf seinem Schoß ein beliebtes, auf dem Land nützliches und in der Kunst oft dargestelltes Haustier, eine kleine, schwarze Katze, während Florian in der rechten Hand zwei Margeriten hält, welche die Unschuld der Kinder unterstreichen. Wollte Willi in diesem Doppelbildnis „nur“ klassische Porträts erschaffen oder sollte doch die Sorge der Zeit – der Vater der beiden Kinder, der Sohn, war Soldat an der Front – unterschwellig durchscheinen?
Vater und Sohn haben zwei Weltkriege nacheinander erlebt und ihre Erfahrungen künstlerisch sehr unterschiedlich verarbeitet. Im Ersten Weltkrieg leistet Willi seinen Kriegsdienst unter anderem als Luftschiffer im Fesselballon, „die einzigen Soldaten […], denen es erspart bleibt, auf Menschen zu schießen“[v], also als Beobachter über den feindlichen Linien, zuerst in Mazedonien und später in Frankreich. Seine Kriegserlebnisse verarbeitet er in Skizzenbüchern, druckgrafischen Blättern und Gemälden. So zeichnet er während des Krieges mehrere Folgen, darunter 1914 „Unsere Helden“ im Gedenken an seinen in den ersten Kriegsmonaten im Elsass gefallenen jüngeren Bruder Wolfgang, der dieses Schicksal mit zahlreichen Künstlerkollegen Willis teilt. Diese für ihn notwendige künstlerische Auseinandersetzung wiederholt sich während des Zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren: Die bekanntesten Zeugnisse bilden die 20 Lichtdrucke des Zyklus „Zwölf Jahre“, welche die Hölle des Krieges explizit veranschaulichen, sowie die zwölf politisch-satirischen Blätter der Mappe „Eine Abrechnung“, in der Willi seine kritische Haltung gegenüber dem Naziregime zum Ausdruck bringt. Beide Mappen erscheinen 1947, darüber hinaus das berühmte Gemälde „Der Generalstab“, welches drei Menschengestalten als Skelette in Uniform vor einer Ruinenlandschaft zeigt.
[i] Willi Geiger, Der offene Horizont: Lebenserinnerungen von Willi Geiger, hg. von Stadt Landshut/Landshuter Werkstätten, Landshut 1996, S. 13 f.
[ii] Das unter Denkmalschutz gestellte Bauernhaus wird 1585 zum ersten Mal in den Chroniken des Ortes Übersee erwähnt. Die Familie Geiger – und später das Archiv Geiger – organisiert seit 2004 in unregelmäßigen Abständen Sommerausstellungen, die sich dem künstlerischen Schaffen von Willi Geiger widmen, immer wieder ergänzt durch das Werk von anderen Familienmitgliedern.
[iii] Geiger 1996 (wie Anm. 1), S. 122.
[iv] So Rupprecht Geiger im Gespräch mit der Verfasserin am 14.1.2003.
[v] Geiger 1996 (wie Anm. 1), S. 92.
Dieser Auszug stammt aus dem Ausstellungskatalog zur oben genannten Ausstellung.
Zitierweise: Geiger, Julia: Die Künstlerfamilie Geiger: Eine Kunstreise über Generationen, in: Kat. Ausst. Väter & Söhne. Konfrontation und Gleichklang, Schloßmuseum Murnau 2016, München 2016, S 119ff.
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