Rupprecht Geiger Werkübersicht #17: Geist und Materie (WV 929-934), 2003-2004
On 1. Juni 2015 by FranziskaEin Beitrag von Franziska Straubinger
Bereits 1978 kommt die Bezeichnung „Geist und Materie“ im Werk Geigers vor, um 25 Jahre später – in den Jahren 2003–2004 – wieder in Form von sechs Gemälden und drei druckgrafischen Editionen wieder aufzutreten. Rein optisch zeichnen sich diese späten Werke durch das Aufeinandertreffen von kraftvoller, teilweise modulierter Farbe und unbehandelter, grauer Leinwand aus. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ist Geiger 95 Jahre alt.
Ende der 1950er Jahre thematisiert Geiger die Wirkung der Tagesleuchtpigmente explizit: er weist dem anfangs partiell eingesetzten fluoreszierenden Farbstreifen die Rolle eines sogenannten „Exponenten“ zu. Er setzt diese Leuchtfarbe als Kontrapunkt und „Anreizer“ ein, um die anderen, herkömmlichen Farben, in eine neue Erscheinung treten zu lassen. Er hält dieses Phänomen in einem Tagebuch von 1970/1975 als „Harmonie des Gegensatzes“ fest. Denn genau an den Stoßstellen dieses Aufeinandertreffens entsteht die Spannung. Doch nicht nur der Tagesleuchtfarbe wird die Rolle eines „Exponenten“ zugesprochen: auch die weißgrundierte Leinwand, oder im Fall der „Geist und Materie“-Werke, die ungrundierte, „rohe“, graue Leinwand, haben die Fähigkeit, die Spannung im Blick des Betrachters exponentiell zu erhöhen:
„Die Farben der Materie sind ganz morbid und normal für mich abstoßend, aber in der Funktion, die Leuchtfarbe noch zu erhöhen ganz wichtig, weil sie (die Farben) gerade vor einem morbiden Hintergrund – altes Holz, Baumrinde, usw. – kolossal emporgehoben werden. Umgekehrt wird das Morbide noch morbider. Der Kontrast wird immer größer und immer stärker. Aber in einem guten Sinne funktioniert die Reibung, v.a. an den Stoßstellen. Materie gegen den Geist der Farbe.“
(Rupprecht Geiger im Interview mit Wilhelm Warning 2003)
Den Geist der Farbe sieht Geiger in der Farbe, die vom Bild abstrahlt, im Licht schwebt und nicht materiell gebunden ist. Dieses Phänomen erscheint z.B., wenn man unfokussiert auf ein Werk Geigers blickt. Die Farbe beginnt sich vom Bildträger abzulösen und man erkennt nun nicht mehr die Farbpigmente – die Materie – sondern das Leuchten selbst. Der Bildträger wird als solcher fast nicht mehr wahrgenommen, die Farbe tritt in ihrer Leuchtkraft in den Vordergrund. Die Kanten der Leinwände sind deshalb meist bemalt, um dieses Erleben einer sogenannten Farbaureole zu verstärken.
Um den gewohnten Blick aufs Bild weiter aufzubrechen, wendet sich Geiger im Rahmen der Geist-und-Materie-Werkgruppe auch wieder dem unregelmäßigen Bildformat zu, das er bereits in einer Werkgruppe vor 65 Jahren, 1948/49, verwendet. Mit dem unregelmäßigen Bildformat wendet sich Geiger bewusst vom traditionellen Blick aus einem Fenster ab und konzentriert sich auf das Wesentliche: Farbe und Form in verstärkter Abstraktion. Die Formenvielfalt im Werk wird zugunsten der Farbe in den Hintergrund gedrängt, weil das Werk selbst als Form auftritt. Die Gemälde treten fast schon grafisch auf: runde und rechteckige Formen scheinen zufällig aufeinanderzutreffen und wachsen über die reguläre Leinwandkante hinaus. Durch die Größe der Werke wachsen sie auch aus dem Blickfeld des Betrachters hinaus. So legt sich beispielsweise bei Geist und Materie 1 (WV 931, 2003) ein hängendes Kreissegment in Gelbtönen moduliert mit rechteckigem obigen Abschluss von links kommend unvermittelt auf die unbehandelte Leinwand. Bei Gelb zu Rot (WV 934, 2004) treffen ein leuchtroter Kreis und ein gelbes Rechteck mit einer kaum wahrnehmbaren Modulation auf der grauen Leinwand aufeinander. Das farbliche Zusammentreffen erfolgt deshalb fast als brutale Kollision. Geiger spitzt die Kombination von toter Materie und vitaler Farbigkeit in seinen letzten Schaffensjahren nochmals zu, als er beispielsweise eine leuchtpinke Leinwand mit Treibholz kombiniert oder Fundstücke aus der Natur und dem Alltag zu bunten Collagen zusammenstellt.
Die Beschäftigung mit dem Farbkontrast zieht sich wie ein roter Faden durch Geigers gesamtes Oeuvre. Ob durch Farbverläufe auf archetypische Formen, wie ein Oval, das vor unseren Augen verschwimmt, oder unregelmäßig geformten Leinwänden, die gleichsam unser Blickfeld zu sprengen scheinen, oder den Kontrast von Tagesleuchtpigmenten und roher Leinwand. In all diesen „Übungen“ dekliniert Geiger Farbe in ihren Erscheinungsformen durch.
Diese Konstanz kulminiert im Gedanken des „Portraits der Farbe“. Was damit gemeint ist, wird deutlich in den Überlegungen, die Geiger zum Thema Geist und Materie anstellt. 1975/78 schon äußert sich Geiger zum Verhältnis von Geist und Materie. Damals unterscheidet er noch zwischen geistiger und materieller Farbe: die materielle Farbe als das aufgetragene, in Acryl gebundene Farbpigment und die geistige, als die vom Werk Abstrahlende, die im unfokussierten Blick von der Leinwand austritt.
In seinen letzten Schaffensjahren begreift Geiger dann das Wesen der Farbe eben als das abstrahlende Geistige. Für ihn bildet das Materielle der Farbe die Grundlage, doch das Entscheidende, das Wesen der Farbe, was es im „Portrait der Farbe“ einzufangen gilt, ist „das sich von der Farbmaterie absondernde Farblicht“.
Geigers Werke machen also die Farbe in ihrer Bewegung sichtbar, in den Spannungen, die sich zwischen „Geist und Materie“ ergeben und zu einem lebendigen Ganzen führen.
Zitierweise: Straubinger, Franziska: Werkbeschreibung Geist und Materie, 2003–2004 (WV 929–934) [01.06.2015], in: Archiv Geiger Blog LINK (zuletzt aufgerufen am TT.MM.JJJJ).
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